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Sehbehinderte darf ihren Blindenführhund mit in die Arztpraxis nehmen

Eine blinde Berlinerin darf mit ihrem Hund eine Arztpraxis durchqueren. Wie jetzt das Bundesverfassungsgericht  urteilte, ist ein solches Zutrittsverbot durch die Ärzte der Praxis unwirksam. Die Frau war 2014 bei einem Physiotherapeuten in Behandlung. Die Physiotherapiepraxis war ebenerdig nur durch das Wartezimmer einer Orthopädiepraxis im gleichen Gebäude zu erreichen. Nach mehrmaligen Arztbesuchen, bei denen sie wie gewohnt die Orthopädiepraxis durchqerte, war ihr von den Ärzten einer Gemeinschaftspraxis verboten worden, ihre Blindenführhündin auf dem für sie notwendigen Weg durch die Praxis mitzuführen.

Die Frau hatte mit ihrer Hündin schon mehrmals die Praxis durchquert, bis ihr schließlich die Ärzte das aus hygienischen Gründen untersagten und sie auf einen alternativen Weg über den Hof verwiesen. Dieser Weg aber führte über eine offene Stahlgittertreppe und kam für die Frau nicht infrage. Ihr Hund nämlich habe nach ihrer Darstellung Angst vor der Treppe, weil er sich schon einmal mit den Krallen im Gitter verfangen und verletzt hatte.

Das Grundgesetz schützt Behinderte besonders

Das Kammergericht Berlin sowie zuvor das Landgericht Berlin hatten die Klage der Frau abgewiesen. Die Berlinerin jedoch ließ nicht locker und ging mit einer Verfassungsklage nach Karlsruhe. Die zweite Kammer des Zweiten Senats gab der Verfassungsbeschwerde der Frau nun als begründet statt und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Kammergericht zurück.[1]

Die Gerichtsbeschlüsse der Vorinstanzen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf Gleichberechtigung aus Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes (GG), befanden die Karlsruher Richter. Dort heißt es: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“.[2]

Demnach habe das Kammergericht bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) die Tragweite des besonderen Gleichheitsrechts und seine Ausstrahlungswirkung auf das bürgerliche Recht nicht hinreichend berücksichtigt. In dem scheinbar neutral formulierten Verbot, Hunde in die Praxis mitzuführen, habe das Gericht die mittelbare Benachteiligung der Beschwerdeführerin nicht genügend berücksichtigt.

Blindenhund ist gesetztlich anerkanntes Hilfsmittel

Die Frau hatte vor Gericht argumentiert, ihr Führhund sei ein gesetzlich anerkanntes Hilfsmittel. Ein Assistenzhund diene der Erfüllung elementarer Grundbedürfnisse wie dem Recht auf selbstbestimmte Lebensführung und gesellschaftliche Teilhabe. Werde ein für „gewöhnliche“ Hunde geltendes Zutrittsverbot auch auf Assistenzhunde erstreckt, so stelle dies eine rechtswidrige mittelbare Diskriminierung nach § 3 Abs. 2 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) dar.[3]

Hygienische Bedenken reichten zur Rechtfertigung eines solchen Verbots grundsätzlich nicht aus. So weise das Robert-Koch-Institut zwar darauf hin, dass Übertragungen von Krankheitserregern vom Hund auf den Menschen denkbar seien. Es handele sich in Deutschland jedoch nur um ein theoretisches Risiko, das im Rahmen der Wahrnehmung von Rechten und den Bedürfnissen behinderter Menschen durch geeignete  betriebsinterne Vorgaben beherrschbar sei.

Nach Ansicht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes könne im vorliegenden Fall von einer unmittelbaren Diskriminierung wegen einer Behinderung ausgegangen werden. Diese sei anzunehmen, weil das Mitnahmeverbot von Führhunden aufs Engste mit den rechtlichen und biologischen Umständen der Behinderung verbunden sei und daher einer unmittelbaren Benachteiligung wegen der Behinderung besonders nahekomme.

Benachteiligung der Klägerin überwiegt

Bei der Frage der Angemessenheit des Durchgangsverbots hatten die Verfassungsrichter die auf Seiten der Ärzte betroffenen Interessen – die Berufsausübungsfreiheit und die allgemeine Handlungsfreiheit in Form der Privatautonomie – gegen das in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG geschützte Recht der Beschwerdeführerin, nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligt zu werden, abzuwägen. Während die wirtschaftlichen Interessen der im Ausgangsverfahren beklagten Ärzte bei einer Duldung des Durchquerens der Praxis mit Führhund schon wegen der kurzen Dauer von dessen Anwesenheit, wenn überhaupt, dann lediglich in geringem Maße beeinträchtigt würden, bringe das Durchgangsverbot erhebliche Nachteile für die Beschwerdeführerin, so das Gericht. Das Verbot mache es ihr unmöglich, sich, wie jede nicht behinderte Person auch, selbständig und ohne fremde Hilfe in die von ihr bevorzugte Physiotherapiepraxis zu gelangen und sich dort behandeln zu lassen.

Recht auf ein selbstbestimmtes Leben

Nach Ansicht der Verfassungsrichter verkenne das Kammergericht offenkundig, dass das Benachteiligungsverbot in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG es Menschen mit Behinderungen ermöglichen soll, so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu führen. Das Benachteiligungsverbot untersagt es, behinderte Menschen von Betätigungen auszuschließen, die nicht Behinderten offen stehen, wenn nicht zwingende Gründe für einen solchen Ausschluss vorliegen.

Dieser Auslegung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG liegt das Ziel zugrunde, die individuelle Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie die Unabhängigkeit von Menschen mit Behinderungen zu achten und ihnen die volle und wirksame Teilhabe an der und die Einbeziehung in die Gesellschaft zu gewährleisten. Mit diesem Ziel und dem dahinterstehenden Menschenbild sei es nicht vereinbar, die Beschwerdeführerin darauf zu verweisen, ihren Führhund vor der Praxis anzuketten und sich von der Hilfe ihr fremder oder wenig bekannter Personen abhängig zu machen. Deshalb müssten die Interessen der Ärzte hinter dem Recht der Beschwerdeführerin zurückstehen.

Das Durchgangsverbot sei deshalb unverhältnismäßig und benachteiligt die Beschwerdeführerin in verfassungswidriger Weise. Das Land Berlin muss der Beschwerdeführerin jetzt auch ihre notwendigen Auslagen erstatten.

Einzelnachweise:

[1] Bundesverfassungsgericht: „Entscheidung in der Verfassungsbeschwerde 2 BvR 1005/18“, in: bundesverfassungsgericht.de vom 30. Januar 2020, siehe auch „Pressemeldung Nr. 10/2020“ vom 14. Februar 2020, Abruf am 17. Februar 2020.

[2] Parlamentarischer Rat: „Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 3“, in: dejure.org, Abruf am 17. Februar 2020.

[3] Bundesamt für Justiz: „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz AGG“, in: gesetze-im-internet.de, Abruf am 17. Februar 2020.

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Anton Anger

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